die flucht


. installation einer flucht

in der massiven kirche, die im mittelalter dem damaligen dorf als fluchtburg gedient hatte, war der ganze altarraum bis zum gewölbe eingerüstet. restauratoren aus valencia suchten nach der ursprünglichen bemalung und hofften auf gotische fresken, mit deren hilfe sie die ursprüngliche malerei der kirche wiederentstehen lassen könnten. die malereien der verschiedenen epochen, die zu tage treten würden, sollten virtuell dokumentiert, dann aber dem großen ziel nach der ursprünglichen darstellerischen absicht untergeordnet und abgekratzt werden. ein modell des chores sollte folgen, in das die unterschiedlichen bemalungen mit verschiedenen koordinierten beamern auf weißen grund projiziert werden könnten, um so die verschiedenen übermalungen der einzelnen epochen zu dokumentieren. das ganze sollte jeweils mit dazugehörigen musiksequenzen untermalt werden. von der besichtigung dieser virtuellen baugeschichte versprach sich das fremdenverkehrsamt der stadt einen zusätzlichen tourismus anreiz.

in diesem chorraum stand ich nun am silvesterabend gegen 19 uhr in hell erleuchteter kirche. die zwei flügel des hauptportals hatten einladend offen gestanden und ich war dem sog des barocken goldes des überquellenden hochaltars gefolgt und hatte die kirche betreten. einige in schwarz gekleidete ältere frauen saßen im vorderen drittel des kirchengestühls und flüsterten miteinander.

.aus einem flohmarkt fund

vor dem chorraum waren auf einem absatz einige halbmeter große motivkästen mit bunten gipsdarstellungen der flucht der heiligen familie nach ägypten ausgestellt, maria mit dem jesuskind auf dem esel reitend in begleitung von dem den esel führenden josef, das ganze jeweils umgeben von künstlichem geblüm hinter verglasung. interessiert sah ich mir die kästen an, die sich alle im aufbau ähnlich waren und wohl erbstücke verschiedener familien waren. zur weihnachtszeit war es wohl tradition, sie hier als narrative fortsetzung der aufgebauten krippe auszustellen. solche kästen hingen noch, auch mit anderen motiven, an manchen häusern der altstadt, immer im ersten stock. nachts waren sie mit einem schwachen elektrischen licht beleuchtet.

madonna folia

rechts von dieser kleinen ausstellung stand eine in transparente folie gewickelte nicht erkennbare mannsgroße heiligenfigur, durch die folie geschützt vor dem durch die restaurierungsarbeiten anfallenden schmutz. für mich hatte diese verhüllung eher die ausstrahlung einer künstlerischen installation, die gut von mir hätte sein können.

durch die gerüststangen hindurch konnte ich in der erleuchteten sakristei die rückenansicht einer Frau in einem liturgischen gewand erkennen. ihr gelocktes haar fiel in weichen kaskaden über ihre schultern herab. der anblick versetzte mich in eine vermeersche bildwelt. ich überlegte mir, welche aufgabe die frau hier zu erfüllen hätte. ihr anblick war für mich unwirklich und weckte in mir anklänge z.b. an eine engelserscheinung.

metamorphose eines engels

nach einigen verrichtungen drehte sich die frau um und verließ die sakristei. die drehung zu mir machte schlagartig aus der rückenansicht der frau eine nicht erwartete vorderansicht eines mannes, nämlich eines jungen priesters, der in seiner langen lockenpracht für mich wie eine zum leben erweckte jesus darstellung aussah. ich war von der unerwarteten metamorphose dermaßen getroffen, dass ich nicht anders konnte, als den geistlichen anzustarren, wärend er schwebenden schrittes mit wallendem gewand und wehenden haaren an mir vorbei in richtung hauptportal ging.

dort war inzwischen, ohne dass ich es bemerkt hatte, auf einem niedrigen rollwagen ein sarg in die kirche gezogen worden. links hatten sich einige frauen und rechts einige männer aufgestellt. ein junger begräbnisausrichter tat sehr geschäftig, hatte eine design sonnenbrille in die gel gestylte schwarze frisur gesteckt, prüfte mit theatralischer gestik und mimik die standfestigkeit des sargwagens auf dem unebenen kirchenboden und ging dann begleitet von den blicken der anwesenden dem priester entgegen, um mit ihm gewichtige worte zu wechseln. daraufhin stellte sich der priester vor den mit kreuz, kranz und schleife geschmückten sarg. der sarg war ungewohnt abgerundet, hochglanzpoliert und schien sehr klein. auf der schleife stand: ´deine enkel´ zu lesen.

während alle in betrachtung des priestes versanken, manche ihn regelrecht anhimmelten, sprach dieser über den sarg ein lautes gebet, das er aus einem buch ablas.

ich bewegte mich langsam rückwärts in die hinteren bereiche der kirche, von wo aus einer von vielen kerzen erleuchteten seitenkapelle ein gescharre zu hören war. ich blickte aber weiter zum sarg und verbeugte mich, als der priester den sarg und alle anwesenden mit einem sprengfeudel benetzte. das scharrgeräusch näherte sich mir von hinten und ein älterer mann zog laut seine gehhilfe an mir vorbei und flüsterte gebetsfragmente.

ich überlegte mir, ob ich mich in die letzte bank setzen sollte, um weiter an der andacht teilnehmen zu können, entschied mich dann aber gegen meine neugierde, zog die mit altem leder dick gepolsterte holztür mit knerzendem schließungsmechanismus zu mir hin und verließ leise die kirche. vom vorraum aus konnte man auf den kleinen platz mit dem gegenüberliegenden rathaus sehen, der an die fußgängerzone anschloß. gegenüber des portals stand der glänzende schwarze mercedes des beerdigungsinstituts mit geöffneten türen und mit kränzen wuchtig beladen. der begräbnisausrichter unterhielt sich lautstark lachend, eine zigarette rauchend, mit dem dienst habenden polizisten in feiertags uniform. aus den weihnachtsdekorationen der straßenbeleuchtung schwebte über allem ein sich wiederholender synthetischer glöckchenklang.

sagrada familia, tortosa

am tag nach neujahr fing ich an, die devotionalienläden tortosas nach figurengruppen der heiligen familie auf ihrer flucht nach ägypten zu durchsuchen.

experimente mit verhüllungen blieben natürlich auch nicht aus.

januar 2008

jetzt, ein jahr später, hatte ich die geschichte und die daraus entstandenen aktionen fast vergessen, als ich eines nachmittags leserbriefe in einer katalanischen zeitung las. ein pater aus vinaròs, nennen wir ihn mal pater jimmy, beklagte sich darüber, dass die zeitung ihn bezüglich der eheschließung zwischen homosexuellen partnern falsch zitiert habe: natürlich habe er homosexuelle freunde, aber er möchte an dieser stelle noch einmal konstatieren, dass es noch nie vorgekommen sei, dass er sie kirchlich getraut hätte und dass es für ihn außer frage stünde, das durch die kirche eingerichtete sakrament der ehe anzuzweifeln.

seitdem liegt das zweite kapitel der flucht nach ägypten in meinem inneren atelier aufgeschlagen, pater jimmy steht daweil mit dem rücken zur wand des alten gotteshauses und sucht nach fluchtwegen.

irgendwie wehrt sich alles in mir dagegen, dass das mir so unwirkliche sylvester- erlebnis des letzten jahres in diesen alltäglichen schmutz augenscheinlicher homosexuellen feindlichkeit gezogen wird.

so bin ich gespannt, wie es weitergehen wird.

alles wiegt schwer: die steine, die diffamierung, die dummheit

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