(l)ego sentimentale *

verknüpfungen aus text, foto,
objet trouvé, installation

Ausschnitte / Versuche

 


 

Weißer Stein mit vier Noppen in Reihe

 

Vor der Kirche von Coxar liegt der zerschlagene alte Beichtstuhl, der einer Renovierung zum Opfer gefallen ist. Unter zersplitterten braunen Holzbrettern findet sich das aus Blech gestanzte Beichtgitter, durch das die meisten Sünden des Dorfes Generationen lang dem Pfarrer zugehaucht worden sind. Der warme, feuchte Atem der Sündenbekenntnisse hat das verzinkte Blech rosten lassen.
Zwischen den nach Weihrauch und Moder riechenden Fragmenten sammele ich Sünden in einen alten Schmalztopf, um sie später für eine Installation digitalisieren zu können.

 

Roter Stein mit acht Noppen

 

Während des Papstbesuches übermittelt mir Franz Kafka eine direkte Botschaft von Liebe und Leid, die nicht in kausalem Zusammenhang zu den um mich herum stattfindenden Ereignissen steht. Das ganze geschieht in der Kölner Ehrenstraße auf dem Wühltisch vor der Bücherei 2001. Ich halte seine gesammelten Werke als Dumping für 5 € in der Hand und schlage mit einem Griff Seite 657 im dritten Oktavheft auf. Mein Blick fällt auf den

7. November:

(Früh im Bett, nach einem >verhutzten Abend<)
Darauf kommt es an, wenn einem ein Schwert in die Seele schneidet: ruhig blicken, kein Blut verlieren, die Kälte des Schwertes mit der Kälte des Steines aufnehmen. Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden.
An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.

 

Blauer Stein mit sechs Noppen in Reihe

 



Der beseelte Hauch von nächtlichen Liebesschwüren und leiser Lautenmusik, Geflüster und Heimchengezirpe liegt unter Julias Balkon begraben. Der Garten ruht verlassen, Unkraut wuchert.

 

 

Durch einen Türspalt kann ich in das verfallene Haus und weiter in einen geöffneten Kühlschrank blicken. In ihm, als ultima cena, erkenne ich etwas Rost und abblätternde Farbe. In diesem Augenblick tippt mir ein älterer Mann, der ein Kinderfahrrad an der Hand führt, von hinten auf die Schulter und sagt: ´Es mia´ (´Ist meins´).
Von einiger Entfernung haben mich aus dem Hausschatten einer Bäckerei der untätige Verkäufer und sein Hund beobachtet. Als ich an ihnen vorbeigehe, blickt der Mann weg.

Später erstaunt mich beim Zusammenstellen der Garten- und Ruinenfotos, dass oberhalb der Haustür als Hausnummer mein Geburtsjahr steht.
Etwas weiter, am Rande von Xerta, steht in einer Platanenallee ein schlichtes ockerfarbiges Haus, das mich anzieht und festhält. Ein Schild weist darauf hin, dass es zu mieten ist.
Ich ziehe mit meinen Träumen und Phantasien ein.
Nachsatz:
Als ich im neuen Jahr das Haus meiner Träume noch einmal besuchen möchte, ist es unerreichbar, Regenfälle haben die Zufahrt unter Wasser gesetzt und ich muss umkehren.

 

Gelber Stein mit zehn Noppen in Reihe.

 

Auf dem Mittelstreifen des Boulevards de la Constitution ist unter Platanen ein Flohmarkt der Gefühle aufgebaut. Lebende und Tote sind gleichberechtigte Akteure dieses Flohmarkts. Der materialisierte Geschmack ihrer Lebensabschnitte befindet sich auf und neben den Verkaufstischen in Form von dicht aneinander gestellten Alltagsdevotionalien. Jedes Teil ist mit dem ehemaligen Besitzer durch eine mentale Nabelschnur verbunden und erzählt allen Vorübergehenden mehr oder weniger aufdringlich seine Geschichte.
Die Vorstellung einer unendlichen Beseelung aller ausgestellten Gegenstände verwirrt mich, ebenso die damit verbundenen unendlichen Wiederholungen identischer Lebenssituationen ohne das von uns allen individuell empfundene Besondere z.B. einer Geburt, einer Liebe, eines Todes.
Ich denke an Dinge, die nur für mich alleine einen Wert haben, an einen Flohmarkt der eigenen Erinnerungen, Ideen, Gefühle und Souvenirs in Form eines abgesperrten winterlichen Platzes unter blattlosen alten Bäumen. In meiner Vorstellung ähnelt dieser Marktplatz dem von Pont St. Esprit der siebziger Jahre: Unzählige Verkaufstische, randvoll mit Geschichten, Begebenheiten, Vorfällen, Gesichtern, Körpern, Gegenständen nur meines eigenen Lebens - ein überquellender Lebenslauf in einer objektbezogenen Parallelwelt. Der Platz liegt menschenleer in kaltem Winterlicht, der Mistral bläst Leichtgewichtiges vor sich her. Ich versuche, die bizarren Rindenstückchen der Platanenstämme zu enträtseln und möchte ihre Botschaft verstehen können. Um den Platz herum sind alte französische Fourgonetten dicht zu einem blau-grauen Wellblechwall abgestellt.
Als gegen Mittag die Aussteller auf dem Lütticher Flohmarkt mit dem Einpacken beginnen, erinnere ich mich, wie ich nach dem Tode meiner Großeltern viele ihrer Sachen aus der Godesberger Wohnung weggeschafft habe. Ich denke an den Müll-Schredder im städtischen Bauhof an der Südstraße, in den ich kistenweise ihre Lebensstücke geworfen habe und sehe die bunten Christbaumkugeln, wie sie knirschend im Trichter der Maschine vom Mahlwerk zermalmt werden.
Im erschlagenden Schwarz-Weiß-Habitus der Radierungen von Goya stelle ich mir so das Ende meines persönlichen Marktes, meiner Kunst und meiner Individualität vor.
In meinem Kopf kreisen Vorstellungen und Erinnerungspirouetten. Ich blicke in deine leeren braunen Augen und dann nach oben in die Blätter der Bäume, sehe stachelige Samenkugeln, Himmelsblau und Licht.
Am Seitenrand des Flohmarkts, in der Nähe von drei Frauen in bunten Kleidern, die beschäftigt sind, auf dem Boden liegende Scherben zu einem Krug zusammenzusetzen, kauere ich mich auf den Rinnstein und versuche gleichmäßig zu atmen.

 

Schwarze Bodenplatte mit sechzig Noppen

 



In einem Billardcafé am Anfang der Rue de Ernest de Bavière diskutieren Flohmarktbesucher, ob die Ornamentik eines Jugendstil-Bilderrahmens als Herz oder als Eichel/Pinienzapfen zu verstehen sei. Das eine deute auf Liebe, das andere auf einen Wunsch nach Fruchtbarkeit hin, je nachdem wie man den Rahmen drehe.
Ich überlege mir, warum als Sitz der Liebe immer das Herz angesehen wird.

Blauer Stein mit zwei Noppen in Reihe

In der nachmittäglichen Septembersonne an der Place de Marché zeige ich die auf dem Flohmarkt für eine Objektinstallation erstandene italienische Billigversion einer Barbiepuppe. Eine Bekannte kommentiert den Fund fraulich abwertend: ´Die ist ja schon wieder blond´.

 

 

Die Aussage war nicht schlecht, ein Schnellschuss mit Volltreffer und direkter Versenkung! Dadurch wird mir wahrscheinlich als letztem von allen bewusst, dass mich auf meinem Lebensweg von der Wiege an blonde Frauen begleitet haben. Folglich wird auch die Tupamara, die mein Leben am Rio Sueño nach einer missglückten Entführung mit einer Salve aus ihrer Kalashnikov beenden wird, blond sein.

 

 

Mein Flohmarkt-Joker, eine Carte de la Visite mit einer dunkelhaarigen Schönheit der vorletzten Jahrhundertwende, bleibt mein Geheimnis und tief unten in der Tiefe meiner Fototasche versteckt.

 

Graue Bodenplatte mit sechzig Noppen

 

Ein Freund kauft in Creixel bei Tarragona eine Tageszeitung und findet darin einen Text mit einem surrealistischen Landschaftsfoto von mir und hat auf diese Weise eine plötzliche und verwunderliche Begegnung mit mir und meinen Vorstellungen.

 



Während die katalanische Zeitung in meinen Kölner Briefkasten fällt, flüstert mir Salvadore Dalí von unzähligen Plakaten in Lüttich zu: Steige die 350 Stufen zum Himmel über der Zitadelle und ich werde Dich von deiner Paranoia heilen.

 

 

Weißer Stein mit acht Noppen in Reihe

 

Ich warte auf eine Nachricht von Brinkmann und Chargesheimer. Bitte meldet euch, Max Ernst ist mit der Eröffnung eines eigenen Museums in seine Heimatstadt Brühl zurückgekehrt (F.A.Z. vom 3.9.05). Was Max kann, könnt Ihr schon lange! Jungs, ich erwarte Euch in der Südstadt, und danke für Eure Hilfe in der letzten Zeit!

Paul McCartney bekommt oft beim Komponieren spirituelle Hilfe von John Lennon.
(F.A.Z. vom 6.9.05)


rmj
Zombieville im September 2005

p.s.
peter handke: nicht ich mache mir ein bild, es zeigt sich mir.


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