Der Briefträger Roulin, Ausschnitt, Vincent van Gogh, Arles 1888

 

le temps perdu ...

 

Nimes liegt hinter uns und es sind noch einige Kilometer bis Arles. Das Hotel, in dem wir übernachten wollen, befindet sich neben einem stereotypen französischen Einkaufszentrum, Gewerbe-Park oder wie immer man eine Ansammlung von Geschäften, Hotels, Fastfood-Anbietern auch nennen möchte. Das Areal ist weitläufig, so dass zum Wechseln des Geschäftes meistens das Auto benutzt werden muss. Überall gibt es Parkplätze in Mengen. Das Dorf, das dem Zentrum seinen Namen gab, liegt weniger als einen Kilometer entfernt.

 

Übernachtung in einem Centre Commercial an der Autoroute du Soleil,
Blick aus dem Fenster; alles quicky, oder?

 

Weder das Einkaufszentrum noch der benachbarte Ort sind vom Hotel zu Fuß erreichbar, weil es kaum Bürgersteige gibt und die meisten Autofahrer auf gewohnten Straßen viel zu schnell fahren, als dass man auf der Straße gehen könnte. Wider Willen steigen wir also wieder in´s Auto und fahren die wenigen Meter zum nahen Ort, den wir schon vor der Reise zu Hause mit Google Earth erforscht hatten.

Der Ort ist klein und man sieht ab und zu ein Auto, aber sehr wenige Bewohner. Wir parken auf einem überschaubaren Platz einer kleinen Grünanlage gegenüber, auf deren zentraler Bank ein junges Pärchen ein Stelldichein hat. Er sitzt (nicht unbekleidet) entspannt angelehnt auf der Bank und sie rittlings (auch nicht unbekleidet) auf seinem Schoß, allerdings scheint alles in Bewegungslosigkeit erstarrt. Tun sie´s oder tun sie´s nicht?

Meine Frau lässt unsere Hündin aus dem Auto springen und wir sind bemüht, das Pärchen nicht zu stören. Hinter uns an einer Häuserzeile entlädt eine Frau ihren Familien-Kombi.

 

Erinnerung an eine zumeist un/glückliche Schulzeit

 

Irgendein Zeitsprung scheint uns in die Kulisse der späten Sechziger versetzt zu haben, in eine Zeit ohne Baumarkt-Kult. Die meisten Gebäude sehen etwas mitgenommen aus, die Patina der vergangenen Jahrzehnte dominiert, die Holzläden vor den Fenstern sind verschlossen. Ob die Bewohner sich vor der Hitze schützen, oder das Haus unbewohnt ist, kann nicht entschieden werden. Nach wenigen Metern geht es die Hauptstraße entlang zum zentralen Platz. Links befindet sich so etwas wie eine kleine Pizzeria, noch geschlossen, einladend mit einem Tisch und zwei Stühlen davor auf dem Fußweg. Der Platz ist überschaubar. Zwei Frauen sitzen vor der Poststelle, eine ältere und eine jüngere, die intensiv mit ihrem Smartphone hantiert und dann lautstark telefoniert, so dass der ganze Platz zuhören könnte, es ist nur außer uns niemand da. Beide beobachten uns auffällig, wir sind ja auch das Einzige, das man beobachten kann.

 

... so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen

 

Eine für mich immer lohnenswerte Reise in die Vergangenheit
sind die Angebote alter Ansichtskarten im Internethandel.

 

Ich mache als guter Tourist Fotos von der Fassade einer stattlichen Kapelle. Daneben befindet sich die ebenso stattliche ehemalige Post hinter Schatten spendenden herrschaftlichen Arkaden. Beide Bauwerke sind übersät mit Stilzitaten vieler Architektur-Epochen. Der Architekt hat aus dem Vollen geschöpft! Unsere Hündin schnüffelt begierig in fremden Revieren. Der Platz läuft an seinem nördlichen Ende auf das sorgfältig gepflegte Kriegerdenkmal zu, auf dem die Gefallenen des Ortes aus dem ersten und zweiten Weltkrieg aufgelistet und betrauert werden, zusätzlich die, für mich ungewohnt, aus dem Indochina-Krieg der vierziger und fünfziger und dem Algerien-Krieg der fünfziger und sechziger Jahre. Die Straße führt am Denkmal vorbei aus dem Ort heraus. Links geht es unter alten Platanen und an einem großen Kruzifix vorbei zu Friedhof, ehemaliger Schule, Pfarrhaus und Kirchenportal.

 

veredelte Hinrichtung

 

Gerade als ich den gusseisernen Griff der schweren Kirchentür niederdrücken will, öffnet sich die Tür und ein älterer Mann kommt in kurzen Hosen heraus, sieht durch uns hindurch und schließt die Kirche schnell ab, steigt auf sein Fahrrad und fährt grußlos davon. Wir setzen uns etwas enttäuscht auf die Bank neben der Kirche, blicken auf Pfarrhaus, Ankündigungskasten und Schule und sind Mittelpunkt eines großen Schweigens unter alten Platanen. Die Sonne scheint durch die Blätter der Bäume und wirft Muster aus Licht und Schatten auf den leeren Platz.

 

die große Leere

 

Dann gehen wir in das Dorf zurück. Wir passieren ein geschlossenes Immobilien-Büro mit seinem üblichen Zeitungskasten, dem wir einen Hochglanz-Werbekatalog entnehmen, in dem auf vielen Seiten begehrenswerte Häuser zwischen Aix-en-Provence und Montpellier zu nicht gerade Schnäppchen-Preisen angeboten werden. Auf der anderen Straßenseite telefoniert die jüngere Frau immer noch, die ältere redet mit sich selbst und schaut uns abwesend hinterher. Vor der Fassade der Kapelle geht es nach links an einem Gemüsegeschäft vorbei allmählich aus dem Ort heraus. Ein Auto parkt vor dem Geschäft und wird von einer Frau mit ihrem Einkauf beladen. Im Inneren des Familienautos kaspern zwei Kinder herum und machen sich über uns lustig.

Rechts steht an einem kleinen Platz mit hohen Platanen eine klassische Villa, das Rathaus, mit Tricolore, EU-Fahne und Blumen geschmückt. Krähen nisten hoch oben. Die Bäume sind voller Gezeter und Gezanke der Vögel. Neben einem Platanen-Stamm liegt ein totes Junges, aus dem Nest gefallen und vertrocknet.

Wir gehen in eine Seitenstraße, wo ein alter Citroen Ami 8 parkt und etwas weiter kommt noch eine Handvoll Einfamilienhäuser hinter Hecken und dann ist auch hier der Ort zu Ende. Wir sollten zurückgehen, das besondere Erlebnis hat es hier in diesem Dorf leider nicht gegeben.


Ein Citroen Ami 8, das Auto meiner Sturm- und Drangzeit,
zu Tal immerhin schneller als ein VW Käfer Standard -
sauber gestaltete Parkbereichs-Begrenzungs-Linien, schlecht geparkt


Vor einem verschlossenen Geschäftseingang auf der Hauptstraße sitzen drei Männer auf der alten Steintreppe und unterhalten sich. Wir grüßen und werden freundlich zurück gegrüßt. Ein Bärtiger scheint einem Bild van Goghs entsprungen, der Briefträger Roulin, wie er leibt, lebte und lebt, selbst die Mütze ist identisch, nur der Bart nicht ganz so lang. Ich kann nur staunen.

An der Kapelle und an einem weiteren verschlossenen Pizza-Service vorbei gehen wir zu unserem Auto zurück. Die Bank in der Grünanlage ist leer, das Liebespaar entschwunden.

Wir fahren zurück zum Hotel, wo wider Erwarten kein Bus mit weiteren Touristen aus Deutschland, England, Holland, Japan etc. vorgefahren ist.

 

in hoc signo vinces

 


 

Anmerkung:

Es ist ja nun keine überraschende Neuigkeit mehr, dass man auf seinen Wegen durch Europa immer seltener intakte Innenstädte antrifft. Die Kaufkraft wird von den Innenstädten in die Einkaufs-Zentren umgeleitet, die sich am Rande der Städte in die Landschaft fressen.
Auf Wikimedia Commons habe ich eine überzeugende Luftaufnahme von Jean-Marc Demangel vom Einkaufs-Zentrum Centre Commercial Chamnord in Chambéry gefunden.
Einen umgekehrten Weg beschreitet die Stadt Bad Münstereifel, die die historische Altstadt teilweise zu einem Factory Outlet Bad Münstereifel umgestaltet. Siehe Goggle Bilder.

 

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